Gewerkschaften in der Mitgliederkrise Aufschwung als Chance und Risiko

Stand: 13.01.2011 17:29 Uhr

Was machen eigentlich die Gewerkschaften? In den großen Debatten werden sie kaum noch gehört, die Mitgliederzahlen sinken konstant. Dabei sind sie gut durch die Wirtschaftskrise gekommen - und im Aufschwung stehen wohl fette Lohnzuwächse an. Nun kündigen sie erneut eine Offensive an.

Von Fabian Grabowsky, tagesschau.de

Nicht nur an der Spitze herrscht scheinbar Stille. Von DGB-Chef Michael Sommer und IG-Metall-Chef Berthold Huber war zuletzt wenig zu sehen. Und vom ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske blieben vor allem seine Mittelfinger in Erinnerung, die er bei einer Rede den politischen Gegnern entgegenstreckte.

Auch an den "heißen Herbst" gegen Kanzlerin Angela Merkels "Herbst der Entscheidungen" erinnert sich kaum noch jemand - auch wenn Mitte November Zehntausende für mehr soziale Gerechtigkeit demonstrierten. Das klingt viel. Gegen die Vehemenz, mit dem Hunderttausende wochenlang gegen das regionale Bauprojekt "Stuttgart 21" loszogen, ist es aber bescheiden. Von wochenlangen Massendemonstrationen gegen die französischen Rentenreform ganz zu schweigen.

Dass Sommer auch mit einem "heißen Frühjahr" drohte, hat den Adressaten dann wohl keine schlaflosen Nächte beschert.

"Gewerkschaften dürfen sich bestätigt fühlen"

Dabei müssten die Granden vor Kraft strotzen. In der Krise fiel vielen Menschen plötzlich wieder auf, dass Gewerkschaften und ihre Themen wichtig sind. Und im aktuellen Aufschwung dürfen sie nach jahrelangem Darben bei Tarifverhandlungen wieder die Hand aufhalten.

Auch Experten sehen die Lage grundsätzlich positiv. "Die Gewerkschaften stehen nach der Krise besser da als viele befürchtet haben", sagt Heiner Dribbusch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im Gespräch mit tagesschau.de. "Die Gewerkschaften dürfen sich nach der Krise ein bisschen bestätigt fühlen: Nachfrageorientierte Politik ist wieder populär", sagt Claus Schnabel, Professor für Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg. 

Bündnis mit dem Zeitgeist

Hilfreich wird ausgerechnet jener Zeitgeist sein, der den Gewerkschaften sonst eher feindlich gegenüberstand. Viele Menschen haben in diesen Monaten in den Abgrund geblickt, um ihren Arbeitsplatz oder sogar ihre wirtschaftliche Existenz gebangt. Erst vergangene Woche landete Deutschland bei einer Studie über die soziale Gerechtigkeit in der OECD-Ländern nur auf einem mauen Mittelfeldplatz. "Die Gewerkschaften stehen in der öffentlichen Meinung ganz gut da. Sie haben die richtigen Themen“, sagt Schnabel im Gespräch mit tagesschau.de.

Aussicht auf ein dickes Lohnplus

Auch der Aufschwung wird daran nichts ändern - im Gegenteil. Die deutsche Wirtschaft wuchs im vergangenen Jahr um satte 3,6 Prozent - Rekordwert seit der Wiedervereinigung. Deutschland steht damit viel besser da als viele vergleichbare Länder. Im aktuellen ARD-DeutschlandTrend beurteilen 61 Prozent der Befragten die wirtschaftliche Lage mit "gut" oder sogar "sehr gut".

Das stärkt nicht zuletzt die Position der Gewerkschaften bei den anstehenden Tarifverhandlungen. Der Beamtenbund machte im Dezember den Anfang: Er fordert für den öffentlichen Dienst der Länder ein Plus von drei Prozent. Ähnliche und höhere Forderungen werden folgen.

Die Gewerkschaften dürfen dabei auf einen fast einmaligen Mangel an Widerstand hoffen. Sogar Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle sprach sich für spürbare Lohnsteigerungen aus - im ARD-DeutschlandTrend von September sahen das fast zwei von drei Befragten genauso. "Lange Zeit galten die Gewerkschaften als Bremser, jetzt finden die Leute, dass die Arbeitnehmer einen Schluck aus der Lohnpulle nehmen dürfen", sagt Ökonom Schnabel.

Massiver Mitgliederschwund und kein Ende?

Kurzfristig scheint also vieles für die Gewerkschaften zu laufen. Langfristig aber nicht. Wie Parteien, Kirchen und andere Großverbände verlieren die Gewerkschaften seit Jahren massiv Mitglieder. Sie verlieren sogar besonders dramatisch: 1999 hatten die DGB-Gewerkschaften noch acht Millionen Mitglieder, 2009 waren es nur noch 6,4 Millionen Mitglieder. Das sind 20 Prozent Gewerkschaftler weniger, in nur zehn Jahren.

Das liegt auch daran, dass sie weiter verzweifelt nach einer Antwort auf die gewandelten Beschäftigungsverhältnisse suchen. Alte Branchen schrumpfen oder sind schon verschwunden. Zu neuen Branchen - Öko-Energie, IT - haben die Gewerkschaften noch keine richtige Beziehung aufgebaut. Hinzu kommen Phänomene wie Outsourcing oder Zeitarbeit. Die Gewerkschaften hätten Mühe, "dem Strukturwandel zu folgen und in kleinbetrieblich strukturierten Branchen Fuß zu fassen", sagt auch Dribbusch von der Böckler-Stiftung.

Das doppelte Dilemma

Weniger Mitglieder heißt - neben schwindenden Mitgliedsbeiträgen - aber auch, dass Gewerkschaftler in den Betrieben immer weniger präsent sind, um Neumitglieder zu erreichen. "Wenn die Arbeitnehmer vor Ort gute Erfahrungen gemacht haben, bringt das oft mehr als abstrakte Slogans", sagt Schnabel. Immer öfter machen die Arbeitnehmer aber gar keine Erfahrungen, weil niemand da ist.

Der Mitgliederschwund bedroht die Macht der Gewerkschaften zudem auch an anderer Stelle: Die Symbolik der Masse ist eine wichtige Säule für ihre Attraktivität. Je mehr Menschen auf die Straße gehen oder streiken, desto stärker ist das Signal an die Gegner. "Mitgliederzahlen sind für Gewerkschaften sehr wichtig. Nur mit vielen Mitgliedern werden sie politisch gehört“, meint Dribbusch.

Das Aufschwungjahr 2011 ist für die Arbeitnehmervertreter also Chance und Risiko. Sie stehen unter Druck: Mit Meinungsführerschaft und hohen Lohnabschlüssen könnten sie den Mitgliederschwund aufhalten oder sogar umkehren. Gelingt ihnen das nicht, vergeben sie eine existenziell wichtige Chance - eine, die vielleicht so schnell nicht wiederkommt.