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Afghanistan-Abzug BND diskutierte über Abhören des US-Militärs

Stand: 14.02.2024 06:00 Uhr

Der überstürzte Abzug aus Afghanistan sorgte weltweit für Entsetzen. Laut WDR-Recherchen diskutierte der Bundesnachrichtendienst danach, ob man besser vorbereitet gewesen wäre, wenn man das US-Militär zuvor abgehört hätte.

Von Florian Flade und Martin Kaul, WDR

Um 08:28 Uhr, am 15. August 2021, so heißt es in einem Vermerk des Bundesnachrichtendienstes (BND), klingelte bei einem Mitarbeiter des deutschen Auslandsgeheimdienstes in Kabul das Telefon. Die Taliban hatten in jenen Tagen bereits große Teile Afghanistans unter ihre Kontrolle gebracht, nun rückten die Islamisten auf die afghanische Hauptstadt vor.

Die Situation verschärfe sich zusehends, meldete der BND-Mitarbeiter: Die "Green Zone", der besonders geschützte Bereich der Stadt, in dem sich auch mehrere westliche Botschaften befanden, werde nicht mehr von den US-Truppen abgesichert. Die Amerikaner hätten Sicherungstechnik bereits abmontiert, würden offenbar abziehen. Und so empfahl auch der BND seinen Mitarbeitern und dem Personal der deutschen Botschaft umgehend eine Evakuierung zum Flughafen Kabul.

Das Chaos von Kabul sorgte weltweit für Entsetzen - und auch in Berlin geriet der deutsche Auslandsnachrichtendienst bereits damals heftig in die Kritik. Wieso hatte der BND die Entwicklungen nicht vorhergesehen? Lag es an der fehlenden Qualität des Dienstes? Oder an rechtlichen Hürden, wie Ex-BND-Chef Gerhard Schindler nur wenige Tage später in einem Interview behauptete?

Brisante Entschuldigung

Es wurde nach den Gründen und Schuldigen für das mutmaßliche Versagen der deutschen Agenten gesucht - auch innerhalb des Dienstes. Die BND-Mitarbeiter sollten eine Antwortvorlage entwickeln, die auch Behördenleitung, Parlament und Kanzleramt präsentiert werden könnte. Am 20. August 2021, nur wenige Tage nachdem Kabul den Taliban überlassen worden war, schickte ein BND-Mitarbeiter aus dem Bereich Controlling des Geheimdienstes eine E-Mail an die Abteilung Technische Aufklärung (TA), zuständig für das weltweite Abhören von Telefonaten, Funk, Satelliten- und Internetkommunikation.

Die Ausgangsfrage: Ob die Rechtslage und die Gesetzesnovellen die Informationsbeschaffung in Afghanistan eingeschränkt hätten? Die Technische Aufklärung schickte einen Verweis darauf, dass aufgrund von Gesetzesänderungen und Dienstvorschriften die Überwachung von EU, NATO und Mitgliedstaaten inzwischen stark reglementiert sei - und ging sogar noch einen Schritt weiter.

Nach WDR-Recherchen warf die Abteilung TA die Frage auf, ob man vom unvorhergesehen, plötzlichen Abzug der USA aus der "Green Zone" in Kabul weniger überrascht worden wäre, wenn man die Amerikaner zuvor abgehört hätte.

Wörtlich vermerkte ein Mitarbeiter aus der Abteilung TA einem internen Schreiben: Mit einer "Vorfeldaufklärung US-amerikanischer Stellen in Afghanistan" hätte dieser Umstand "eventuell erheblich früher erkannt" werden können. Die "sehr restriktive" Beschränkung der Möglichkeiten und entsprechenden Vorbehalte im Bezug auf "die Aufklärung von Partnern" habe sich nachteilig auf die vollständige Lageaufklärung ausgewirkt.

Eine brisante und kontroverse Einschätzung, die bisher öffentlich nicht vertreten worden ist. Immerhin war das Bespitzeln von Partnerländern und Diensten einer der skandalträchtigsten Aspekte der NSA-Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2013. Damals war bekannt geworden, dass die US-Geheimdienste wohl jahrelang das Mobiltelefon von Angela Merkel abgehört hatten. Die damalige Bundeskanzlerin prägte anschließend den Satz: "Abhören unter Freunden, das geht gar nicht."

Eine Folge der Snowden-Enthüllungen: Die Bundesregierung passte mit sogenannten Novellen das BND-Gesetz an, erst 2016, dann erneut 2022. Vor allem die technischen Abhörmaßnahmen sind seitdem strenger geregelt.

Welcher Satz geht ans Kanzleramt?

Tatsächlich war auch innerhalb der Technischen Abteilung des BND daher umstritten, ob der Satz so in der Sprachregelung auftauchen sollte. Ein Mitarbeiter vermerkte, es gebe aus seiner Sicht "keine greifbaren rechtlichen Gründe", die "kausal zu einer Verschlechterung der Aufklärung/Aufklärungsmöglichkeiten AFG im vorliegenden Kontext geführt hätten".

Die Referatsleitung wollte die Bewertung zudem nicht mitzeichnen, verwies darauf, dass solche Aussagen über Sinn und Nutzen des Abhörens von Partnern nur von den zuständigen Auswertern zu treffen seien.

"Grundsätzlich durchaus möglich"

Wieder an anderer Stelle verwies ein Mitarbeiter auf einen anderen Aspekt: Dass es trotz der strengen Gesetzesvorgaben und internen Regelungen grundsätzlich durchaus denkbar gewesen wäre, die Amerikaner zu überwachen. "Die Vorfeldaufklärung US-amerikanischer Stellen" in Afghanistan, so heißt es in einer E-Mail, sei gemäß Dienstvorschrift mit einer entsprechenden Ausnahmegenehmigung des Abteilungsleiters "möglich gewesen".

Er würde, so schrieb der BND-Mitarbeiter weiter, daher empfehlen, den entsprechenden Hinweis aus dem Antwortschreiben zu entfernen - da sonst der Vorwurf aufgebracht werden könne, weshalb eine entsprechende Ausnahmegenehmigung nicht erwirkt worden sei.

Im BND war man sich offenbar uneins darüber, ob umfangreichere Abhörmaßnahmen - zur Not sogar gegen die Partner - womöglich zu einer besseren Lageeinschätzung in Kabul geführt hätten. Eine Maßnahme, die technisch vielleicht machbar, aber politisch wohl kaum gedeckt gewesen wäre.

Auf Nachfrage wollte sich der BND nicht zu dem Sachverhalt äußern, ein Sprecher verwies darauf, dass der Dienst "zu Angelegenheiten, die etwaige nachrichtendienstliche Erkenntnisse oder Tätigkeiten betreffen, grundsätzlich nicht öffentlich Stellung" beziehe.

Fragen für den Untersuchungsausschuss

Im Bundestag soll derzeit ein Untersuchungsausschuss die vielen offenen Fragen rund um die Rolle der Bundesregierung beim Afghanistan-Abzug klären. Dort wurden bereits mehrere Vertreter aus dem BND und zahlreiche Diplomaten als Zeugen gehört. In den kommenden Monaten soll schließlich auch die Amtsleitung des Bundesnachrichtendienstes befragt werden, der amtierende Präsident Bruno Kahl und die frühere Vize-Präsidentin Tania Freiin von Uslar-Gleichen.

Dabei hätte es wohl gar keine Abhöraktion von Partnern gebraucht, um die Lage in Afghanistan besser beurteilen zu können. Ende vergangenen Jahres stellte sich die deutsche US-Botschafterin und frühere Staatssekretärin im Innenministerium, Emily Haber, den Fragen im Untersuchungsausschuss. Haber hatte das Auswärtige Amt fast anderthalb Wochen vor der Machtergreifung der Taliban vor einem frühzeitigen Abrücken der US-Truppen gewarnt.

Nach Gesprächen mit ranghohen US-Beamten hatte die deutsche Top-Diplomatin am 6. August 2021 einen vertraulichen Kabelbericht nach Berlin geschickt. Darin hieß es, die Amerikaner hielten es für wahrscheinlich, dass die afghanische Regierung zusammenbrechen werde, möglicherweise würden sie dann schon früher abziehen: "Darauf müssen wir vorbereitet sein."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 15. November 2023 um 00:10 Uhr.