Razzia in Stuttgart
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Bandenkriminalität im Südwesten Das Ländle und die Gangs

Stand: 30.01.2024 14:28 Uhr

Schusswechsel, Anschläge, martialische Aufmärsche - im sonst so beschaulichen Baden-Württemberg gibt es laut Ermittlern ein Bandenproblem. Eine mögliche Erklärung: die geringe Polizeidichte.

Von Von Oliver Mayer-Rüth und Benedikt Nabben, BR und Lukas Föhr, SWR

Als der iranische Kurde Shariar K. vergangenen Sommer in der schwäbischen Stadt Göppingen ins Taxi steigt, hat er eine M7- Handgranate jugoslawischer Bauart in der Tasche. Der Körper der Waffe sei mit 3000 Stahlkugeln ausgekleidet, heißt es in einer Beschreibung. Der effektive Tötungsradius liege bei zwölf Metern. Shariar K. nennt dem Taxifahrer als Ziel den Friedhof der am Fluss Neckar gelegenen knapp 6000-Seelen-Gemeinde Altbach.

Dort hat sich eine Trauergemeinde versammelt, um sich von einem 21-Jährigen Mann zu verabschieden. Er war bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Staatsanwaltschaft rechnet den Verstorbenen einer Bande zu, die sich im Großraum Stuttgart seit fast zwei Jahren mit einer gegnerischen Gruppe einen blutigen Krieg liefert. Neben einigen Nachbarn und Bekannten erweisen der trauernden Familie mehrere Bandenmitglieder die letzte Ehre.

Wohl nur knapp am Mehrfachmord vorbei

Auf diese hat es Shariar K. offenbar abgesehen, als er den Ring der Handgranate zieht und diese Richtung Trauergemeinde wirft. Auf halbem Weg streift die Granate einen Ast, verfehlt ihr Ziel und explodiert auf einer freien Fläche. Dennoch verletzen die freigesetzten Stahlkugeln 15 Personen teilweise schwer. Wäre die Granate inmitten der Trauergemeinde eingeschlagen, wären mindestens 20 Personen getötet worden, vermutet ein Polizist im Gespräch mit Report München und der SWR-Sendung Zur Sache Baden-Württemberg.

Der Angriff war der Höhepunkt im Konflikt zwischen den verfeindeten Banden. Zuvor gab es nach Polizeiangaben in den Jahren 2022 und 2023 15 Schießereien auf offener Straße. Wer den Großraum Stuttgart kennt, kann sich vorstellen, zu welcher Aufregung die Eskalation der Gewalt führt. Die Region gilt traditionell als friedlich und sicher. Automobilkonzerne und zahlreiche mittelständische Unternehmen sorgen für Wohlstand.

   

Tatort des Handgranatenanschlags in Altbach am Neckar

Bei dem Handgranatenanschlag in Altbach am Neckar hat nach Polizeiangaben nur ein Zufall verhindert, dass es viele Tote gab.

Mehrere Orte mit Bandenschwerpunkten

Staatsanwaltschaft und Polizei benennen die Banden nach den Orten, in denen sie die Vorherrschaft haben. Die eine Gruppe wird den Städten Esslingen, Plochingen und Ludwigsburg zugeordnet. Die andere Gruppe dem Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen beziehungsweise Göppingen.

Neben den Gewaltdelikten kommt es immer wieder zu martialischen Aufmärschen von mehreren Dutzenden jungen Männern. Zuletzt zogen sie durch den Stuttgarter Stadtteil Vaihingen und skandierten auf Türkisch das Wort "Intikam", auf deutsch Rache. Markus Eisenbraun, Polizeipräsident in Stuttgart, erklärt im Interview, es handle sich im Regelfall um 18- bis 28-Jährige junge Männer, die zum überwiegenden Teil Migrationshintergrund haben. Der harte Kern sei kurdischer Abstammung.

Rapvideos als mögliches Beweismaterial

Aus Polizeikreisen heißt es, Ermittler werten gezielt Videos zweier regionaler Rapmusiker aus. In diesen tauchen Personen auf, die den beiden Banden beziehungsweise dem kriminellen Milieu zugerechnet werden. Andreas Stenger, Präsident des baden-württembergischen Landeskriminalamtes, führt bei einem Interviewtermin Musikvideos des aus Esslingen stammenden Rappers Eska vor. Dieser soll in Verbindung mit Personen stehen, die im Bandenkrieg in Gewaltdelikte verwickelt waren.

Polizisten beim Auswerten von Rapvideos

Rapvideos sollen Hinweise auf Bandenmitglieder und ihre Taten geben.

Bei Recherchen von Report München und dem SWR stellt sich heraus, in Eska-Videos sind mehrere Personen zu sehen, die vor Kurzem wegen einer Schießerei vor dem Stuttgarter Landgericht standen. Der Richter verhängte hohe Haftstrafen. Das Urteil ist jedoch nicht rechtskräftig.

Zur Gruppe Zuffenhausen-Göppingen soll der bundesweit bekannte Rapper Dardan Verbindungen haben, so Ermittlerkreise. Vor Kurzem war er Coach für den deutschen Rap-Nachwuchs in der ProSieben-Sendung "The Voice Rap". In einem seiner Videos zeigt er neben Zuffenhausener Straßenzügen und Muskelmännern in Machopose wiederholt Pistolen und für den Verkauf abgepackte Drogen - offenbar Marihuana und Kokain.

Dardan

Der Rapper Dardan zeigt in seinen Videos offen eine Affinität zu Banden.

ProSieben-Star fordert Freiheit für Drogendealer

In einem weiteren Video hat sich um Dardan eine Gang versammelt. Junge Männer tragen Waffen und üben sich im Schattenboxen. Der ProSieben-Coach rappt "Freiheit für M., Freiheit für U." Nach ARD-Recherchen handelt es sich um zwei für mehrere Jahre in Haft sitzende Drogendealer. Report München und der SWR konnten die Urteile der beiden einsehen. Beide wurden verurteilt wegen des Verkaufs von jeweils mehr als 100 Kilogramm Rauschgift.

Interviewanfragen bei Dardan und Eska blieben unbeantwortet. Immerhin erklärt ProSieben auf Nachfrage: "Dardan und seine Musik sind Teil deutscher Jugendkultur. Und werden hunderttausendfach gehört und gestreamt. Deswegen war er Coach bei The Voice Rap."

Stuttgarts Polizeipräsident Markus Eisenbraun

Laut Stuttgarts Polizeipräsident Eisenbraun verdienen einige der Bandenmitglieder mit Kriminalität ihren Lebensunterhalt.

Überschneidungen mit klassischer Kriminalität

Polizeipräsident Eisenbraun warnt, die Gangs haben mehr als 500 Mitglieder und es gebe Überschneidungsbereiche zur klassischen Kriminalität. Betäubungsmittel, aber auch andere Straftaten spielten eine Rolle. Teile der Gruppierungen verdienten sich mit Kriminalität den Lebensunterhalt, so Eisenbraun.

Doch wie konnte es zu so einer Eskalation der Gewalt kommen? Die Gewerkschaft der Polizei in Baden-Württemberg weist auf Nachfrage umgehend auf die bundesweit geringste Polizeidichte hin. Tatsächlich gibt es in keinem anderen Bundesland so wenig Polizisten im Verhältnis zu den Einwohnern wie in Baden-Württemberg.

Kretschmann sieht kein Sicherheitsproblem

Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann will diesen Zusammenhang jedoch nicht sehen. Auf die Frage, ob es mehr Polizeikräfte in der Region geben müsste, antwortet Kretschmann auf Nachfrage von Report München und dem SWR, die Polizeidichte sei ein Mittel zum Zweck und nicht der Zweck selbst. Der Zweck sei die Sicherheit im Land und die Sicherheit in Baden-Württemberg stehe nicht hinter der Sicherheit in anderen Ländern zurück.

Für das gesamte Land mag Kretschmann recht haben. Doch im Großraum Stuttgart ist in den letzten knapp zwei Jahren etwas deutlich aus den Fugen geraten. Immerhin liegt die Region bei der Anzahl abgefeuerter Waffen bundesweit im oberen Drittel. Baden-Württembergs Innenministerium verweist auf eine Einstellungsoffensive bei der Polizei, die langsam Früchte trage.

Angeklagte des Handgranatenanschlags in Altbach am Neckar vor Gericht

Angeklagte des Handgranatenanschlags schweigen weiter vor Gericht.

Angeklagter schweigt vor Gericht

Mit dem Thema beschäftigte Ermittler gehen jedoch davon aus, dass der Bandenkrieg den Großraum noch einige Zeit in Atmen halten wird. Der Handgranatenwerfer Shariar K. steht wie einige andere Gangmitglieder inzwischen vor Gericht. Er hat die Tat gestanden, schweigt jedoch zu Details.

K. versuchte vom Friedhof zu fliehen. Schließlich schnappten ihn Mitglieder der gegnerischen Gang und traten auf ihn ein. Erst als die Polizei kam, hätten sie von ihm abgelassen, so die Staatsanwaltschaft. K. überlebte nur knapp.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste in "report München" am 30. Januar 2024 um 21:45 Uhr.