#Hass

Neonazis in Nordhessen Das rechte Netz des Stephan E.

Stand: 19.06.2019 13:34 Uhr

Der Tatverdächtige im Mordfall Lübcke gilt als rechtsextrem - zuletzt war er aber nicht mehr im Blickfeld der Ermittler. Doch zumindest früher soll er tief vernetzt in die militante Szene in Kassel gewesen sein.

Von Lena Kampf, Katja Riedel, WDR, und Toni Kempmann, NDR

Knapp zwei Wochen, nachdem sich die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in einem Wohnwagen in Eisenach selbst getötet haben und sich zu einer bisher nicht aufgeklärten Mordserie an neun Migranten bekannten, geht am 15.11.2011 ein anonymes Schreiben bei der Polizeidirektion Erfurt ein. "Betreff Neonazi", steht darauf. Weiter heißt es: "Ich schreibe das hier nicht zum Spaß. Die ganzen Anschläge werden von Kassel und Thüringen organisiert." Als Organisator des Terrors werden zwei Personen bezichtigt, einer davon ist ein bekannter Neonazi aus Kassel, Bernd T. 

T. sitzt zu diesem Zeitpunkt allerdings in Haft. Organisator der Anschläge ist er nicht, das stellt sich schnell heraus. In seiner Vernehmung durch das LKA Hessen im Februar 2012 behauptet er jedoch, Mundlos und Böhnhardt seien in Kassel bekannt gewesen.

Ort des neunten NSU-Mordes

Die Aussage ist brisant, wenn auch an Gegenleistungen geknüpft, denn T. will damit offenbar eine Entlassung auf Bewährung erreichen. Der neunte Mord der NSU-Mordserie war von den Rechtsterroristen in Kassel begangen worden. In seinem Internetcafé starb der damals 21-Jährige Halit Yozgat am 6.4.2006 hinter dem Tresen durch Kopfschuss.

Mundlos und Böhnhardt hätten Kontakte zur lokalen rechten Szene gehabt, sagt auch T. in seiner Aussage. Sie hätten sogar vor der Tat dort Unterschlupf gefunden. Auch ein anderer Kasseler Neonazi wird später aussagen, Mundlos und Böhnhardt in Kassel gesehen zu haben.

Halit Yozgat

In Kassel erinnert heute ein Gedenkstein an Halit Yozgat und ein nach ihm benannter Platz.

Einblick in eine militante Szene

Wie weit die Aussagen zutreffen, konnten die Staatsanwälte bisher nicht verifizieren. Die folgenden Ermittlungen in Kassel offenbarten jedoch eine Szene, die als sehr militant und gewaltbereit gilt und einen geographischen Verbindungspunkt zwischen rechtsextremistischen Kameradschaften in Ostdeutschland und Hotspots wie Dortmund im Westen darstellt.

Auch der Rechtsextremist Stephan E., der Tatverdächtige für den Mord am Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, soll laut Sicherheitskreisen mindestens früher tief vernetzt in diese Szene gewesen sein. Der 45-Jährige steht im Verdacht, Lübcke Anfang Juni mit einem Kopfschuss auf dessen Terrasse erschossen zu haben, er wurde am Samstag festgenommen. Ein mögliches Motiv ist noch unklar, bisher äußert E. sich nicht zu dem Tatvorwurf. 

Zuletzt wurde der vielfach einschlägig vorbestrafte E. allerdings 2009 aktenkundig, als er gemeinsam mit anderen Neonazis am 1. Mai eine DGB-Kundgebung attackierte. Wegen seiner Beteiligung wurde er 2010 wegen Landfriedensbruchs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Danach, so scheint es, widmete er sich seiner Familie und dem Hausbau, sowie seinem Hobby, dem Bogenschießen im Schützenverein. 

"Gewaltbereit" und "hochgefährlich"

Welche Rolle er früher in der rechten Szene in Hessen gespielt hat, lässt sich anhand von Ermittlungsunterlagen aus dem NSU-Komplex nachvollziehen, die WDR, NDR und "Süddeutsche Zeitung" ausgewertet haben. Vom Landesamt für Verfassungsschutz Hessen (LfV) wurde E. lange als "gewaltbereiter Rechtsextremist" geführt. Angeblich soll er sogar als "hochgefährlich" eingestuft gewesen sein, erinnert sich der Obmann des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, Hermann Schaus.

E. scheint in der Szene zumindest als NPD-Mitglied bekannt gewesen zu sein. So erinnert sich ein V-Mann des hessischen LfVs an Stephan E. als "NPD-Stephan". Dem Landesamt habe er unter anderem auch über E. Berichte abgegeben.

Allerdings wurde E. offenbar nicht als Führungsfigur der Neonaziszene betrachtet. In einem geheim eingestuften V-Mann Bericht von 2002 über Kassler Rechtsextremisten wird E. in einer Liste von etwa 20 Namen nicht erwähnt - trotz seines einschlägigen Vorstrafenregisters.

Teilnahme an NPD-Demos

Es spricht einiges dafür, dass E. die lokalen Größen, wie etwa T., kannte. Mehrere Fotos, die die Rechercheplattform "Exif" veröffentlicht hat, zeigen ihn 2002 bei einer NPD-Demonstration in Kassel gemeinsam mit den damaligen Kasseler Führungskadern Stanley R., Markus E., Mike S. und Michel F.

Wie eng diese Verbindungen darüber hinaus waren, ist bisher nicht ausführlich dokumentiert. Auch über seine Einbindung in überregionale rechtsextremistische Netzwerke wie "Combat 18", dem bewaffneten Arm der seit 2000 in Deutschland verbotenen Organisation "Blood & Honour", gibt es bisher kaum Anhaltspunkte. Die Zahlen 18 stehen für den ersten und achten Buchstaben des Alphabets, A und H, also die Initialen von Adolf Hitler. Aus diesem Netzwerk speisten sich viele Unterstützer des NSU.

Dabei gab es in Kassel eine starke Kameradschaftsstruktur, zu deren Führungsstruktur damals eben die bekannten Rechtsextremisten Mike S. und Markus E. gehörten. Die Kasseler Kameraden sollen immer wieder Demonstrationen in Ostdeutschland besucht haben, was durch Polizeiberichte dokumentiert ist. E. wurde dabei aber nicht aktenkundig. 

Aufbau eines Netzwerkes

In den Nullerjahren sollen T. und Stanley R. die Struktur "Sturm 18" aufgebaut haben, ein Netzwerk aus autonomen Kameradschaften, die überregional vernetzt waren und das 2015 vom damaligen hessischen Innenminister Peter Beuth (CDU) verboten wurde.

Es gibt Zeugenaussagen, dass die Gruppe um T. die Nordstadt mit ihren militanten Auftritten terrorisiert habe, dabei "rechte Parolen krakeelt" und "Nachbarn und Passanten belästigt" hätten. T. betrieb die rechtsextreme Website "nso-sturm". R. war außerdem in der Musikszene aktiv. Er soll Rechtsrockkonzerte in Kassel organisiert haben, mindestens einmal mit der Dortmunder Neonazi-Band "Oidoxie".

Kontakte nach Thüringen

Insgesamt ist die Kasseler Szene stark nach Thüringen vernetzt. So bestehen laut Akten enge Kontakte zur "Arischen Bruderschaft" im thüringischen Fretterode, einer Kameradschaft um den NPD-Funktionär Thorsten Heise. Heise findet auch deshalb immer wieder große Beachtung wegen einer möglichen Nähe zu AfD-Politiker Björn Höcke, auch wenn beide in der Vergangenheit immer wieder betont haben, sich nur flüchtig zu kennen.

Während der vom LfV damals als "hochgefährlich" eingestufte E. selbst während seiner aktiven Zeit also offenbar eher eine Randfigur der rechten Szene in Hessen gewesen sein muss, werfen gerade die Jahre seit seiner letzten Verurteilung 2010 Fragen auf: Pflegte er noch Kontakte zu den alten Kameraden aus Kassel? War E. noch politisch aktiv oder radikalisierte er sich weiter im Netz?

Auf Youtube soll er zumindest 2018 noch kommentiert haben, entweder diese Regierung danke bald ab oder es werde Tote geben. Es sei Zeit, zu handeln, Schluss mit Reden. Diese Rhetorik zumindest, erinnert an das Motto des NSU: "Taten statt Worte."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 18. Juni 2019 um 22:17 Uhr.