Interview

Interview mit Wladimir Kaminer "Die wahre Heimat gibt es hier nicht"

Stand: 26.08.2007 21:44 Uhr

Wladimir Kaminer ist ein Shootingstar der jungen deutschen Literaturszene. In Büchern wie"Schönhauser Allee" und "Russendisko" erzählt er ironische Geschichten aus der russisch-deutsch-vietnamesischen Welt im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Er moderiert eine eigene Radiosendung und veranstaltet die schon legendäre "Russendisko". Im Gespräch mit tagesschau.de berichtet er über die Rolle der Kunst für die Integration und woran es liegt, dass viele Spätaussiedler in Deutschland schwer Fuß fassen.

tagesschau.de: Herr Kaminer, Sie sind 1990 von Moskau nach Berlin gezogen. Warum?

Kaminer: Die Sowjetunion öffnete sich, zum ersten Mal gab es die Möglichkeit, in andere Länder zu reisen. Ich habe damals in einer Theaterwerkstatt gearbeitet, und meine Kollegen nutzten alle die neue Reisefreiheit, um im Ausland Arbeitsaufträge anzunehmen. Ich war zu jung, um eine Einladung zu bekommen, wollte aber auch die große weite Welt kennenlernen. Also bin ich in die DDR gefahren. Das war damals einfach, denn als Sowjetbürger brauchte ich für Ostberlin kein Visum.

In Deutschland herrschte 1990 der Zauber der Wende: Die DDR existierte nur noch auf dem Papier, faktisch war die Mauer schon weg. Trotzdem wollte ich eigentlich weiter nach Dänemark, weil dort viele Freunde waren. Aber daraus wurde nichts.

tagesschau.de: Warum nicht?

Kaminer: Ich war nicht gut informiert. Ich hatte die ganze Sache mit Freiheit und Gleichheit überschätzt. Europas Grenzen waren zwar offen, aber nicht so offen, wie ich dachte. Ich bin nur bis zur dänischen Grenze gekommen.

tagesschau.de: Wie sind Sie in Deutschland aufgenommen worden?

Kaminer: Zu der Zeit taten sich in Ostberlin große Freiräume auf. Der alte Staat zog sich zurück und der neue war noch nicht richtig da. Es war leicht, eine Wohnung zu finden. Die Bewohner des Prenzlauer Bergs hatten Angst, dass die Mauer zurückkommt und zogen in Scharen in den Westen. Gleichzeitig kamen junge Menschen in den Stadtteil, um ein alternatives Leben aufzubauen. Und man ließ uns machen.

tagesschau.de: Aber irgendwann kamen die Behörden zurück....

Kaminer: Ich hatte eine Wohnung besetzt und bekam nun von der Hausverwaltung einen rechtmäßigen Mietvertrag. Auch die Theaterarbeit war leicht. Berlin war in den 90er Jahren eine blühende Kunststadt, wo alle möglichen Kunst- und Kulturprojekte staatliche Unterstützung bekamen. Besonders, wenn sie mit politischen Entwicklungen zu tun hatten. So habe ich 1992 mit Kollegen ein Theaterfestival organisiert, zu dem wir Gruppen aus verschiedenen Republiken der Sowjetunion einluden. Es hieß „Theater nach der Diktatur“.

tagesschau.de: Im Jahr 2000 ist Ihr erstes Buch erschienen, „Russendisko“. Seither amüsieren Sie Ihre Leser mit Geschichten über Ihre Familie, Ihre russischen Freunde und Ihre vietnamesischen und deutschen Nachbarn in der „Schönhauser Allee“. Ist diese Straße ein gelungenes Beispiel für „Multikulti“?

Kaminer:Ja, irgendwie schon. Multikulti ist nicht unbedingt mein Lieblingsthema, aber es zieht sich wie eine Spur durch mein Leben. Schreiben ist für mich so etwas wie Lebensforschung. Die unterschiedlichen Kulturen, die hier leben, gehören zu meinem Alltag.

"Auch die Bürger der DDR sind eigentlich Fremde"

tagesschau.de: Viele Ihrer Geschichten handeln von Immigranten, die sich bemühen, mit den Spielregeln des deutschen Alltags vertraut zu werden – und immer wieder die absurdesten Zusammenstöße mit den Behörden erleben.

Kaminer: Man kann sich stundenlang über deutsche Behörden aufregen. Aber wenn man die deutsche Verfassung gelesen hat – und ich habe sie zu Hause auf deutsch und auf russisch – dann weiß man, dass dieses Land nach guten Gesetzen regiert wird, die jeder vernünftige Mensch sofort unterschreiben wird.

Abgesehen davon finde ich es falsch, die Leute so streng nach Immigranten, Ausländern und Einheimischen zu trennen. Deutschland verändert sich ungeheuer schnell, nicht zuletzt durch die Wiedervereinigung. Im Grunde genommen sind auch die Bürger der ehemaligen DDR hier Fremde. Die Realität des Alltags verändert sich viel schneller, als die Politik und das Selbstverständnis der Nation hinterherkommen. Dazu kommt die Entwicklung der Europäischen Union: Wer weiß schon, wie die EU in ein paar Jahren aussieht und wie Deutschland sich entfalten wird. Das ist ein sehr spannenden Prozess, an dem alle teilnehmen – die Zugezogenen wie die Einheimischen.

tagesschau.de: Nicht alle Ihre Landsleute haben so viel Erfolg in Deutschland wie Sie. Viele Immigranten stehen sozial schlecht da. Und auch bei der jüngsten Pisa-Studie haben Einwandererkinder schlecht abgeschnitten. Woran liegt das?

Kaminer: Wenn jemand mit einem klaren Ziel kommt und weiß, was er sich von einem Neuanfang hier verspricht, wird er unmöglich bei einem Pisa-Test schlecht abschneiden. Als DJ bei der Russendisko lerne ich viele junge Menschen kennen, die zum Studieren nach Deutschland kommen. Die können nach drei Semestern perfekt deutsch. Sie fallen überhaupt nicht als Ausländer auf – und werden auch nicht als solche betrachtet. In den Debatten über „Multikulti“ wird aber immer nur auf die Ausländer eingegangen, die sich abschotten und in den sogenannten Parallelgesellschaften leben.

tagesschau.de: Warum schottet sich ein Teil der Einwanderer ab?

Kaminer: Ich glaube, dass viele Leute mit falschen Vorstellungen nach Deutschland kommen. Da ist viel Träumerei dabei, wenn zum Beispiel eine russlanddeutsche Familie, deren Vorfahren Deutschland vor 300 Jahren verlassen haben, aus Kasachstan nach Berlin zieht. Einmal hier, stellen sie fest, dass sie Mythen nachgejagt sind. Das Deutschland, das sie gesucht haben, die wahre Heimat, die gibt es hier nicht. Diese Enttäuschung bringt oft große Probleme.

Das trifft besonders die Menschen aus ländlichen Gegenden, die in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen sind. Wenn die in Baden-Württemberg landen, na, da mag das noch gut gehen. Aber wenn sie in eine Großstadt kommen, kriegen sie garantiert Probleme. Außerdem werden heute viele junge Menschen von ihren Eltern gezwungen, nach Deutschland mitzukommen.

tagesschau.de: Was meinen Sie mit "gezwungen"?

Kaminer: Der Umzug nach Deutschland wird ja von den Erwachsenen beschlossen, die jüngeren Mitglieder der Familie werden zumeist nicht nach ihrer Meinung gefragt. Und die sehen sich dann hier mit einer für sie sehr befremdlichen Realität konfrontiert.

Ost-Kultur ist im Westen noch unbekannt

tagesschau.de: Sie selbst haben ein Stück Ihrer Kultur nach Berlin geholt und organisieren zusammen mit einem Freund russische Partys. Mittlerweile gibt es in der ganzen Bundesrepublik diese „Russendiskos“. Was fasziniert die Deutschen daran so?

Kaminer: Die Musik ist neu. Ost und West sind zwar näher aneinander gerückt, aber die Kulturen sind gegenseitig noch sehr unbekannt. So haben die Menschen in Russland keinen blassen Schimmer von deutscher Musik – außer von Rammstein –, und die Deutschen kennen die osteuropäische Musik nicht. Dazu kommt, dass wir Musik präsentieren, die nicht vom kapitalistischen Marktverständnis vergiftet ist. Natürlich gibt es auch kommerziellen russischen Pop – aber den spielen wir nicht.

tagesschau.de: Sehen Sie in Ihren Büchern und in den Russendiskos einen Beitrag zur Integration?

Kaminer: Auf jeden Fall. Und es geht noch darüber hinaus. Dass meine Frau, meine Kollgen und ich hier sind und uns so viel Mühe geben, so viel arbeiten – das ist ein Riesenbeitrag zur Emanzipation dieses Landes.

tagesschau.de: Was meinen Sie damit?

Kaminer: Die Aufgabe von Kunst und Kultur ist es, fremde Einflüsse zu verinnerlichen. So wird die Gesellschaft weise und klug. Eine Gesellschaft kann nur wachsen, wenn sie sich austauscht, fremde Einflüsse aufnimmt und eigene weiter gibt. Deshalb fand ich die Debatte zur Leitkultur so abstoßend: Das war ein Versuch, sich abzugrenzen. Die Aufgabe jeder Kultur ist für mich aber nicht, Mauern zu bauen, sondern sie zu durchbrechen und stattdessen Brücken zu errichten. Ich höre doch zu Hause auch nicht nur russische Musik!

tagesschau.de: Sie sind „bekennender“ Berliner. Was halten Sie vom restlichen Deutschland?

Kaminer: Die ersten acht Jahre in Deutschland habe ich in einem einzigen Stadtteil verbracht. Ich hatte keine Ahnung von Deutschland. Auf meinen Reisen sehe ich natürlich, dass die Gesellschaft, die ich mir erträume, noch ein Kleinkind ist. So hat es mich auf meiner ersten Lesereise total verwundert, dass es Leute gibt, die ein Problem mit Homosexualität haben. Das ist kein Thema, über das sich im Prenzlauer Berg jemand aufregt. Aber wenn ich in anderen Ländern bin, zum Beispiel in Russland oder England, dann sehe ich, dass die dort noch viel rückständiger sind. Aus Sicht eines Prenzlauer Bürgers geht zwar alles viel zu langsam voran. Aber es passiert.

Die Fragen stellte Christine Kahle