Fragen und Antworten zur Atomkraft Wie hoch ist das Restrisiko?

Stand: 15.03.2011 14:51 Uhr

Bei ihren Befürwortern gilt Kernenergie als sichere Sache, gar als saubere Energiequelle im Vergleich etwa zur Kohle. Doch niemand bestreitet ein Restrisiko dieser Energie für die Bevölkerung. Wie gefährlich ist radioaktive Strahlung für den Menschen? Was hilft bei erhöhter Radioaktivität im Umfeld von Atomkraftwerken? tagesschau.de hat einen Überblick zusammengestellt.

Weshalb ist Atomenergie so riskant?

Eigentlich hört es sich einfach an: Um aus Atomen Energie zu gewinnen, werden Atome mit Neutronen beschossen. Das führt dazu, dass sich der Atomkern spaltet. Es entsteht Energie und radioaktive Strahlung. Das Problem dabei: Bei jeder Kernspaltung entstehen zwei bis drei neue Neutronen. Diese treffen auf die anderen Atomkerne des Spaltmaterials - eine Kettenreaktion beginnt. Lässt sich diese kontrollieren, ist alles in Ordnung. Doch versagt ein Kontrollsystem, dann wird aus der kontrollierten Kettenreaktion eine unkontrollierte. Und das kann - wie jetzt in Japan - katastrophale Folgen haben. 

Was ist ein GAU? Was ist ein Super-GAU?

GAU ist nach Definition des Bundesamts für Strahlenschutz  die Abkürzung für "größter anzunehmender Unfall", auch Auslegungsstörfall genannt. Er bezeichnet "den größten Unfall, für den die Sicherheitssysteme noch ausgelegt sein müssen." Diese müssen in einem solchen Fall gewährleisten, "dass die Strahlenbelastung außerhalb der Anlage die nach der Strahlenschutzverordnung geltenden Störfallgrenzwerte nicht überschreitet."

Es ist somit der größte Unfall, der bei der Planung einer kerntechnischen Anlage anzunehmen ist und dessen Beherrschbarkeit im Rahmen des Genehmigungsverfahrens nachzuweisen ist. Grundlage sind technisch-physikalische Modelle für einen technisch beherrschbaren Störfall. Es gibt aber Störfälle, die von solchen Modellen nicht erfasst werden und die zu einem technisch nicht mehr beherrschbaren Super-GAU führen.

Als Super-GAU wird ein Unfall bezeichnet, bei dem stärkere Belastungen auftreten als beim GAU. Das ist dann der Fall, wenn der Reaktor außer Kontrolle gerät und beispielsweise eine Kernschmelze eintritt. Experten verwenden statt des Begriffs "Super-GAU" lieber den Terminus "auslegungsüberschreitender Störfall".

Bei einer Freisetzung von Radioaktivität jenseits der gesetzlich festgelegten Grenzwerte  kann also von einem Super-GAU gesprochen werden. Streng genommen erfüllt ein Unfall ab der INES-Stufe 5, also der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse, diese Bedingung. Es ist jedoch in der Politik üblich, erst schwere und katastrophale Unfälle mit Super-GAU zu bezeichnen (INES 6 und INES 7). Bekanntestes Beispiel für einen Super-GAU war die Katastrophe von Tschernobyl.

Wie funktioniert eine kontrollierte Kettenreaktion?

Um die Kettenreaktion zu kontrollieren, werden die sogenannten Brennelemente mit Wasser in Verbindung gebracht - sie bestehen aus einem Bündel von Brennstäben, die mit spaltbaren Stoffen wie Uran oder Plutonium gefüllt sind. Das Wasser sorgt dafür, dass die für die Spaltung notwendigen Neutronen abgebremst werden. Denn nur mit reduzierter Geschwindigkeit treffen die Neutronen auch tatsächlich die Urankerne und spalten sie. Bei jeder Kernspaltung muss ein neues Neutron entstehen. Sonst würde die Kettenreaktion stoppen. Da bei jeder Spaltung aber zwei bis drei Neutronen freigesetzt werden, müssen die überschüssigen eingefangen werden. Denn nur durch den Zugriff auf den Neutronenhaushalt lässt sich die Kettenreaktion steuern und kontrollieren.

In Kernkraftwerken werden dazu Steuerstäbe eingesetzt. Diese bestehen aus Bor oder Cadmium - Materialien, die wie ein Schwamm überschüssige Neutronen aufzusaugen. Steuerstäbe sorgen also dafür, dass sich immer die gleiche Anzahl von Neutronen im Reaktor befindet, die Voraussetzung für eine kontrollierbare Kettenreaktion.

Lässt sich ein Atomkraftwerk abschalten?

Nicht auf Knopfdruck. Sind zu viele Neutronen entstanden, werden die Steuerstäbe tiefer in den Reaktor eingefahren. Abhängig von ihrer Einfahrtiefe, verringert sich die Zahl der Neutronen. Je tiefer die Stäbe eindringen, desto weniger Neutronen gibt es. Soll die Kettenreaktion ganz gestoppt werden, werden die Stäbe komplett in den Reaktorkern eingefahren. Das Kernkraftwerk ist dann zwar abgeschaltet - es produziert aber immer noch Wärme.

Warum entsteht trotzdem noch weiter Wärme im Reaktor?

Die bei der Kernspaltung entstandenen Isotope wie Cäsium-137 sind instabil, sie zerfallen also weiter und senden Gammastrahlen aus. Diese Nachwärme entspricht zwar nur noch gut einem Zwanzigstel der bei laufendem Reaktor erzeugten Wärme, eine Stunde nach Abschaltung ist es sogar nur noch ein Prozent. Trotzdem muss sie durch Kühlsystem aus dem Reaktor geleitet werden. Aber das Kühlsystem braucht Strom - und ausgerechnet der ist in den Atomreaktoren von Fukushima-Daiichi ausgefallen.

Was passiert, wenn die Atomreaktoren nicht mehr gekühlt werden?

Wenn kein frisches Kühlwasser in den Reaktor gepumpt wird, verdampft immer mehr altes Kühlwasser und der Druck in dem abgeschlossenen Reaktor steigt. Dann bleibt eigentlich nur noch eine Möglichkeit: Druck ablassen. Genau das wurde in Japan auch versucht. Der Nachteil:  Radioaktive Dämpfe können so ungehindert in die Natur entweichen. Wie das Beispiel Fukushima ebenfalls zeigt, wird dadurch nicht immer die ursprüngliche Gefahr gebannt.

Was bedeutet "trocken laufen"?

Funktionieren die Kühlsysteme nicht mehr, verdampft ab einem gewissen Zeitpunkt so viel Kühlwasser, dass die Brennstäbe nicht länger von Kühlwasser bedeckt werden. Aktuell scheint das im Reaktorblock 2 des AKW Fukushima passiert zu sein. Dann erhitzen sich die Reaktoren innerhalb einer Dreiviertelstunde auf über 1000 Grad Celsius und die Metallhülsen der Brennstäbe samt dem darin enthaltenen Uran sowie den radioaktiven Spaltprodukten schmelzen. Diese  strahlende Lava tropft durch den Boden des Reaktors, wo sie sich durch die stählerne Schutzhülle schmelzen kann.

Wie kann Meerwasser helfen?

In ihrem verzweifelten Kampf die Temperatur der Reaktorkerne herunter zu kühlen, greifen die japanischen Techniker momentan auf eher ungewöhnliche Methoden zurück. Sie leiten Zehntausende von Tonnen Meerwasser in die defekten Reaktoren und versuchen so den Temperaturanstieg zu senken. Konkret wurde der Raum zwischen dem Reaktor-Druckbehälter selbst und dem Containment, also der Umhüllung aus Stahl, geflutet. Diese Art von Kühlung ist in keinem Lehrbuch vorgesehen. Die Hoffnung: durch die Flutung lässt sich eine Kernschmelze hinauszögern oder der schon geschmolzene Kern in einem Temperaturgleichgewicht halten.

Die japanischen Techniker haben das Meerwasser zudem mit Borsäure versetzt, was dafür spricht, dass das Meerwasser auch ins Reaktorinnere geleitet wird: Borsäure erfüllt dieselbe Funktion wie die Steuerstäbe in den Brennelementen. Sie absorbiert Neutronen und soll damit die Kettenreaktion stoppen. Ein Problem bleibt aber: mit der Zeit fängt auch das eingeleitete Meerwasser an zu kochen - gelingt es nicht, die Wärme auch wieder abzuführen, steht man wieder vor dem Anfangsproblem.

Ist in deutschen oder europäischen AKW ein Super-GAU denkbar?

Auch wenn die Erdbeben- und Tsunami-Gefahr in Deutschland natürlich nicht annähernd so hoch ist wie in Japan: Auch hierzulande gibt es Hochwasserkatastrophen, ab und an kann die Erde beben und auch Stromausfälle sind möglich. Im schlimmsten Fall kann es dann ebenfalls zu einer Verkettung von unglücklichen Umständen kommen wie jetzt in Japan. In ihrem Aufbau unterscheiden sich die deutschen und die japanischen Kernkraftwerke nur unwesentlich. Sie verfügen über ähnliche Sicherheitssysteme, die - wie das Beispiel Japan jetzt zeigt - auch komplett ausfallen können. Dann könnte es auch in Deutschland zu einer Kernschmelze und einem atomaren Super-GAU kommen - darauf sind die Sicherheitssysteme nicht ausgelegt.

Selbst wenn in Deutschland alle AKW abgeschaltet würden, blieben vergleichbare Gefahren für die deutsche Bevölkerung durch Atommeiler bestehen, die in fast allen europäischen Nachbarländern betrieben werden. 143 Atommeiler stehen auf europäischem Boden zwischen Finnland und dem Mittelmeer. Und einen EU-weit gültigen Sicherheits-Standard für AKW gibt es bisher nicht.

Wie gefährlich ist die Strahlenbelastung für den Menschen?

Mögliche Gesundheitsschäden hängen von Dauer, Art und Stärke einer Strahlenbelastung ab. Experten unterscheiden zwischen akuten Schäden und Spätfolgen. Wer bei atomaren Katastrophen hohen Strahlendosen ausgesetzt ist, erkrankt leichter an Krebs, etwa Leukämie und Schilddrüsenkrebs. Bösartige Tumore können auch Jahre oder sogar Jahrzehnte später auftreten. In der engsten Umgebung des Reaktors kann bei einer Kernschmelze möglicherweise die Belastung so hoch sein, dass es zur akuten Strahlenkrankheit kommt: Fieber, Übelkeit, Verbrennungen von Haut und Mundraum, Haarausfall, innere Blutungen und schlimmstenfalls der Tod.

Auch Schädigungen am Erbgut der Menschen sind möglich, so dass nachfolgend geborene Kinder der Geschädigten durch Fehlbildungen betroffen sein können. Auch kann sich durch atomare Verseuchung in betroffenen Regionen über viele Jahre die Fehlgeburtenrate erhöhen. Spätfolgen können auch durch die in Nahrung gespeicherte Radioaktivität entstehen: Lebensmittel aus belasteten Regionen können auch langfristig kontaminiert sein und sollten nicht gegessen werden.

Gemessen wird Radioaktivität auf Basis des Internationalen Einheitensystems SI. Die SI-Einheit heißt Sievert - ein Sievert (Sv) entspricht 1000 Millisievert (mSv). Nach Angaben der japanischen Regierung wurden am Atomkraftwerk Fukushima Strahlenwerte von 400 mSv pro Stunde gemessen. Dieser Wert entspräche dem 20-fachen der jährlichen Belastung einzelner Mitarbeiter der Atomindustrie. Der Mensch ist normalerweise einer natürlichen Strahlung von etwa zwei mSv pro Jahr ausgesetzt. Zum Beispiel beim Röntgen des Oberkörpers beträgt die Belastung rund 0,02 mSv an, beim Röntgen des Kiefers etwa 0,01 mSv.

100 mSv gelten als gefährlicher Grenzwert: Die Wahrscheinlichkeit für einen Anstieg von Krebserkrankungen steigt, wenn der Mensch mindestens in dieser Größenordnung ein Jahr lang durch Strahlen belastet wird. Eine zusätzliche Dosis von 1000 mSv würde wahrscheinlich in 20 Prozent der Fälle nach vielen Jahren noch eine tödliche Krebserkrankung auslösen.

Wie können sich Menschen vor radioaktiver Strahlung schützen?

Die Einnahme von Jodtabletten schützt nur vor Schilddrüsenerkrankungen, aber nicht vor anderen Schädigungen der inneren Organe. Wirklich schützen kann man sich nur durch Flucht: durch Entfernung vom Ort der Strahlenquelle. Eine Evakuation kann durchaus über mehrere hundert Kilometer vonnöten sein - abhängig von den Messwerten. Im Fall von Tschernobyl haben Experten festgestellt, dass sich die Gefahr nicht gleichmäßig verringert, so dass es nicht ausgereicht hätte, etwa einen 20-Kilometer-Umkreis zu evakuieren. Damals gab es auch 400 Kilometer vom Atomunfall entfernt schwer verseuchte Gebiete, während dazwischen Regionen sogar weniger verseucht waren als der bayerische Wald. Die Gefahr, dass eine radioaktive Wolke von Japan jedoch über mehrere tausend Kilometer bis nach Europa kommt, ist nach aktuellem Kenntnisstand nicht gegeben.

Ist die vorbeugende Einnahme von Jodtabletten sinnvoll?

Deutsche Apotheker warnen ausdrücklich vor einer Einnahme von Jodtabletten "auf eigene Faust". Die Präparate sollten nur nach behördlicher Aufforderung genommen werden. Die Tabletten verhindern, dass sich radioaktives Jod aus der Luft oder aus Nahrungsmitteln in der Schilddrüse anreichert. Eine Einnahme bringe hierzulande nur etwas, wenn es eine radioaktive Wolke direkt über Deutschland geben sollte. Die Jodeinnahme ist nicht ungefährlich: Bei Erwachsenen über 45 Jahren kann zu viel Jod sonst das Risiko für Schilddrüsenerkrankungen steigern.

Welche Rolle spielt das Wetter bei Austritt von Strahlenbelastung?

Gelangen radioaktive Substanzen in die Umwelt, werden sie mit dem Wind verteilt. Je weiter sie fort getragen werden, umso geringer ist ihre Konzentration. Zusätzlich nimmt die Konzentration der radioaktiven Stoffe auch dadurch ab, dass einige kurzlebige, instabile Substanzen mit der Zeit zerfallen - zum Beispiel leicht flüssige Edelgase, die bei der Druckentlastung eines Reaktors austreten können. Dies trifft auch auf radioaktives Jod zu. Zudem kann Regen Partikel aus einer radioaktiven Wolke auswaschen - etwa über den Weiten des Pazifiks. Deswegen werden derzeit von Experten für Europa allenfalls geringfügige Auswirkungen erwartet, die zwar messbar sein können, aber nicht gesundheitsschädigend.

Zusammengestellt von Corinna Emundts und Niels Nagel, tagesschau.de