Fragen und Antworten Unbegrenzter EZB-Staatsanleihenkauf?

Stand: 21.06.2016 12:15 Uhr

Darf die EZB in unbegrenzter Höhe marode Staatsanleihen kaufen? Sie darf, entschied der Europäische Gerichtshof, nachdem das Bundesverfassungsgericht entsprechende Klagen nach Luxemburg weitergereicht hatte. ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam erklärt, worum es genau geht.

Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion

Worum geht es in dem Verfahren?

Es geht um den Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB). Im Juli 2012 hatte EZB-Präsident Draghi angekündigt, seine Bank werde alles tun, was nötig ist, um die europäische Schuldenkrise zu lösen ("Whatever it takes"). Am 6. September 2012 trat Draghi in Frankfurt vor die Presse. Er kündigte ein Programm mit Namen "Outright Monetary Transactions" (OMT) an. Der Inhalt: Die EZB werde im Notfall auf dem sogenannten "Sekundärmarkt", also auf den Finanzmärkten, in unbegrenzter Höhe Staatsanleihen von Krisenstaaten aufkaufen. Dazu druckt sie Geld in der nötigen Menge. So werde an den Anleihemärkten den Spekulanten der Boden entzogen. Die Folge: sinkende Zinsen, für die sich die Krisenstaaten frisches Geld besorgen können. Als Gegenleistung müssten sich die Staaten unter den Rettungsschirm ESM begeben (was mit Bedingungen verknüpft ist, zum Beispiel, bestimmte Reformen anzugehen). Der Ankauf könne in unbegrenzter Höhe stattfinden, so Draghi.

Bislang wurde das OMT-Programm nicht umgesetzt. Die Grundsatzfrage hinter dem Rechtsstreit lautet: Welche rechtlichen Grenzen muss die unabhängige EZB beachten? Und wie intensiv ist das von den Gerichten kontrollierbar?

In welchem Kontext fand die Ankündigung der EZB 2012 statt?

Im Mittelpunkt stand 2012 zunächst die Gründung des dauerhaften europäischen Rettungsschirms ESM. Gegen die deutsche Beteiligung am ESM wurden im Juni 2012 Klagen beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Die Nervosität war groß. Würde an Karlsruhe die Eurorettung scheitern? Für den 12. September war die Entscheidung im Eilverfahren angekündigt. Wenige Tage zuvor, am 6. September, kam dann die Pressekonferenz Draghis zum umstrittenen Staatsanleihen-Programm. Da konnte schnell der Eindruck entstehen: Egal, welche Grenzen beim ESM ihr einfordert, liebe deutsche Richter - wir jedenfalls werden in unbegrenzter Höhe auf den Märkten eingreifen.

Das Bundesverfassungsgericht hat später die deutsche Beteiligung am ESM im Prinzip gebilligt. Mit einer Ausnahme: Das umstrittene OMT-Programm könnte nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gegen die europäischen Verträge verstoßen, weil die EZB dadurch die ihr zugewiesenen Aufgaben überschreite. Diese rechtliche Frage hat Karlsruhe ausgeklammert und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vorgelegt.

Warum können einzelne Bürger vor Gericht gegen Maßnahmen der EZB vorgehen?

Insgesamt wird die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht von rund 37.000 deutschen Bürgern unterstützt. Der EuGH reiht sich allerdings nicht in den klassischen "Instanzenzug" ein. Wer also als Bürger vor dem Bundesverfassungsgericht verliert, kann nicht einfach selbst nach Luxemburg ziehen. Zum EuGH kommt man als einzelner Bürger nur über den "Umweg" der nationalen Gerichte. Wenn für die Entscheidung Vorschriften aus dem Europarecht relevant sind, müssen die nationalen Gerichte dem EuGH die Fragen dazu vorlegen. Luxemburg entscheidet dann, wie das EU-Recht zu verstehen ist und gibt den Fall ans nationale Gericht zurück, das abschließend entscheidet. Auch andere wichtige Verfahren wie das "Recht auf Vergessenwerden" bei Google oder die Vorratsdatenspeicherung sind so nach Luxemburg gekommen.

Was sind die rechtlichen Fragen beim Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB?

Laut Grundgesetz (Artikel 88 Absatz 2) darf Deutschland die Aufgaben der Notenbank der Europäischen Zentralbank übertragen, die unabhängig und dem vorrangigen Ziel der "Preisstabilität" verpflichtet ist. Die EZB ist unabhängig, die Regierungen haben also keinen direkten Einfluss auf ihr Handeln. Aber natürlich ist sie an die Aufgaben gebunden, die ihr die europäischen Verträge zuweisen (Artikel 119 ff.). Rechtlich geht es daher um die Frage, ob die EZB ihre Kompetenzen überschreitet, also etwas tut, für das sie nach den Europäischen Verträgen gar nicht zuständig ist. Aufgabe der EZB ist: die Geldpolitik, mit dem Ziel, eine stabile Währung mit stabilen Preisen zu gewährleisten. Nicht erlaubt ist dagegen: Wirtschaftspolitik und Staatsfinanzierung durch die EZB, also die Finanzierung der Haushalte einzelner (überschuldeter) Staaten. Die Frage ist nun: In welchen Bereich fällt der Ankauf von Staatsanleihen am Sekundärmarkt? Erlaubt oder verboten?

Was sind die Argumente der EZB?

Die EZB argumentiert, sie reagiere nur auf das gestörte Gleichgewicht an den Anleihemärkten in Form von extrem hohen Zinsen für Krisenstaaten, die diese für frisches Geld ausgeben müssen. Man mache also Geldpolitik. Auch nach dem Vorlage-Beschluss aus Karlsruhe im Februar 2014 betonte die EZB, man bewege sich im Rahmen des Mandats. In vielen anderen Staaten herrscht im Übrigen die Ansicht vor, es gehe hier um Fragen des (wirtschafts)politischen Ermessens, die einer gerichtlichen Kontrolle entzogen seien.

Was ist die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts?

Für das Bundesverfassungsgericht sprechen in seinem Beschluss vom 7. Februar 2014 gewichtige Gründe dafür, dass die EZB ihr Mandat der Geldpolitik mit dem OMT-Programm überschreitet. Ein Indiz sei, dass die EZB nur Staatsanleihen einzelner Mitgliedsstaaten ankaufen würde. Geldpolitik betreffe typischerweise aber alle Staaten gleich. Außerdem sehen sie folgende Gefahr: Hilfsprogramme wie der Europäische Rettungsschirm ESM seien der Höhe nach begrenzt, außerdem hätten die Parlamente hier Kontrollfunktionen. Bei einem Ankauf von Staatsanleihen durch die unabhängige EZB könnten diese Kontrollmechanismen umgangen werden. Zweiter Kritikpunkt: Das OMT-Programm verstoße gegen den Grundsatz der EU-Verträge, dass die EZB keine Staatsfinanzierung betreiben dürfe. Allerdings lässt Karlsruhe auch ein "Hintertürchen" offen. Der Beschluss der EZB sei möglicherweise dann nicht zu beanstanden, wenn man gewisse Grenzen einziehen würde. Als Beispiel nennt das Gericht: den Ausschluss eines Schuldenschnitts, einen Ankauf von Staatsanleihen nur in begrenzter Höhe, und dass es keinen Eingriff in den Marktpreis der Staatsanleihen gebe.

Warum hat Karlsruhe das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt?

Grundsätzlich gilt die Aufgabenteilung: Das Bundesverfassungsgericht prüft deutsche Rechtsakte am Maßstab des Grundgesetzes, der Europäische Gerichtshof (Luxemburg) prüft europäische Rechtsakte am Maßstab der europäischen Verträge. Allerdings hat Karlsruhe sich immer die abschließende Kontrolle vorbehalten, ob Institutionen der EU ihre Befugnisse in einzelnen Fällen deutlich überschreiten. Im Juristenjargon heißt das dann, sie könnten "ultra vires" handeln. Um so eine Prüfung geht es hier bei der Frage, ob die EZB entgegen ihrem Auftrag Staaten finanziert hat oder nicht. Würde sie ihr Mandat evident überschreiten, wäre das nicht mehr von den Kompetenzen gedeckt, die Deutschland auf die EU-Institutionen übertragen hat. Allerdings hat Karlsruhe auch immer gesagt: Sollte man einmal zu dem Ergebnis "ultra vires" kommen, würde man die Rechtsfragen dem EuGH zur Prüfung vorlegen, damit das für Europarecht zuständige Gericht die Fragen behandeln kann. Das ist nun - erstmals in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts - passiert. An anderen Gerichten, etwa dem Bundesgerichtshof, sind solche Vorlagen seit vielen Jahren Gang und Gäbe. Ebenso an anderen Verfassungsgerichten der EU-Staaten.

"Kapituliert" Karlsruhe damit vor dem EuGH?

Die Vorlage ist erst einmal ein Zeichen der Öffnung. Jahrelang hatte man über das "Kooperationsverhältnis" der Gerichte nur geredet, jetzt hat man zum ersten Mal ernst gemacht. Über Europarecht entscheidet der EuGH, so ist das rechtlich vorgesehen. Es war eher ungewöhnlich, dass Karlsruhe so lange gebraucht hat, andere Verfassungsgerichte von EU-Staaten waren da schneller. Den Vorlagebeschluss mit seinen Fragen kann man aber durchaus auch als Herausforderung an die Kollegen in Luxemburg verstehen, denn die Meinung, dass die EZB ihre Kompetenzen überschreitet, ist recht deutlich formuliert. Gleichzeitig zeigen die Richter aber auch Korrekturmöglichkeiten auf, nach dem Motto: "Das ist unsere Rechtsauffassung, wir sehen Möglichkeiten, wie man das reparieren kann, geht Ihr darauf ein oder nicht?" Man kann fast den Eindruck bekommen, Karlsruhe möchte Luxemburg zu einer Entscheidung "Ja, aber" herausfordern. Ja, der Ankauf von Staatsanleihen ist möglich, aber folgende Grenzen sind zwingend. Solche "Ja, aber"-Entscheidungen hat Karlsruhe selbst in europäischen Fragen schon oft gesprochen.

Was ist bisher in Luxemburg geschehen?

Die große Kammer des EuGH mit 15 Richterinnen und Richtern unter Vorsitz des Gerichtspräsidenten Vasilios Skouris hat am 14. Oktober 2014 mit allen Beteiligten des Verfahrens mündlich verhandelt. Dabei haben die Vertreter der EZB eingeräumt, dass es sich bei dem OMT-Programm um eine "unkonventionelle" Maßnahme handelt, aber sehr wohl um eine, die noch vom Mandat der EZB gedeckt sei. Der Vertreter der EU-Kommission hat die EZB zwar grundsätzlich unterstützt, aber auch betont, dass die Arbeit der EZB einer gerichtlichen Kontrolle unterliege und gleichzeitig einige "Sicherungen" vorgeschlagen. Es gebe keinen "Blankoscheck" für die EZB. "Ihre Ausführungen haben mir die Arbeit erleichtert", sagte der federführende EuGH-Richter Larsen. Aus manchen Richterfragen war aber auch große Skepsis gegenüber der Haltung des BVerfG zu spüren, sich für bestimmte Situationen das "letzte Wort" vorzubehalten. Auch bemängelten einige, dass es ja für das OMT-Programm noch gar keinen richtigen Rechtsakt, nur eine Ankündigung gebe. Die Klage könne daher gar nicht zulässig sein. Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass sich diese Position durchsetzt.

Welches "Zwischenergebnis" gibt es bislang in Luxemburg?

Am 14. Januar 2015 hat EuGH-Generalanwalt Pedro Cruz Villalon seine Schlussanträge vorgestellt. Das ist ein unabhängiges Gutachten, welches das  Gericht unterstützen soll. Sein Ergebnis lässt sich in der Tat mit einem "Ja, aber" zusammenfassen. Ja, das OMT-Programm der EZB ist rechtmäßig, aber die Bank muss einige Bedingungen beachten.

Vorab betont er, dass die EZB wegen ihrer Expertise einen weiten Ermessensspielraum habe, die Gerichte also zurückhaltend kontrollieren sollten. Allerdings geht er auch davon aus, dass dieses Ermessen nicht unbegrenzt ist und die EZB grundsätzlich einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Zur ersten Frage aus Karlsruhe sagt der Generalanwalt: Das OMT-Programm sei eine - wenn auch unkonventionelle - geldpolitische Maßnahme, die EZB also innerhalb ihres Mandats. Das OMT-Programm sei geeignet und auch erforderlich, um die Zinssätze für Staatsanleihen gefährdeter Euro-Staaten zu senken. Allerdings: Wenn das OMT-Programm einmal angewendet werde, müsse sich die EZB aus anderen konkreten Hilfsprogrammen für den betroffenen Staat heraushalten. Viele Beobachter haben für diesen Fall schon das "Ende der Troika" aus EZB, IWF und EU-Kommission vorausgesagt. Weitere Bedingungen: Die EZB müsse jeden Ankauf genau begründen und darlegen, welche besonderen Umstände diesen "unkonventionellen" Schritt nötig machen. Schließlich müsse die EZB auch so vorgehen, dass sich auf den Finanzmärkten erst einmal ein "Marktpreis" für die Staatsanleihen bilden kann. Damit wäre die Gefahr gebannt, dass die Anleihen nicht vom betroffenen Staat zu überhöhten Preisen direkt an die EZB "durchgereicht" werden.

Welchen Stellenwert hat das Gutachten des Generalanwalts?

Die Schlussanträge sind für den EuGH nicht bindend. In der Mehrzahl der Fälle deckt sich das Urteil des Gerichts mit dem Gutachten des Generalanwalts. Eine Statistik dazu gibt es nicht. Nach Schätzungen kommen rund achtzig Prozent der Fälle zum gleichen Ergebnis wie der Generalanwalt. Allerdings gab es in der Vergangenheit auch immer wieder prominente Fälle abweichender Entscheidung, zum Beispiel beim inzwischen berühmt gewordenen "Google-Urteil" zum "Recht auf Vergessen" im Internet. Unbestritten ist aber, dass der Schlussvortrag ein erster entscheidender Fingerzeig ist, der die wesentlichen Problempunkte des jeweiligen Falles behandelt.

Wird Karlsruhe die Antwort aus Luxemburg akzeptieren??

Grundsätzlich entscheidet der EuGH bindend darüber, wie das Europarecht auszulegen ist, ob also die EZB gegen europäisches Recht verstößt oder nicht. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in vergangenen Entscheidungen immer wieder angekündigt, sich auch inhaltlich ein "letztes Wort" vorzubehalten, wenn der EuGH mit seiner Rechtsprechung aus Karlsruher Sicht seine Kompetenz einmal deutlich überschreiten würde. Das Problem könnte sich stellen, wenn der EuGH das Handeln der EZB komplett durchwinken, oder gar nicht erst in eine inhaltliche Prüfung einsteigen würde. Die spannende Frage ist also, wie sehr Luxemburg auf die Karlsruher Bedenken eingeht, und ob das Bundesverfassungsgericht die Antwort aus Luxemburg am Ende hinnimmt. Bei einem öffentlichen Auftritt hat Verfassungsrichter Peter Huber angedeutet, man werde jede "vertretbare Entscheidung" akzeptieren. Das deutet eher nicht darauf hin, die eigene Rechtsansicht in jedem Punkt um jeden Preis durchsetzen zu wollen. Es wird auf das "Gesamtpaket" ankommen. Eine abschließende Entscheidung dürfte es aber frühestens Anfang 2016 geben.

Hat Karlsruhe die rechtlichen Mittel, der EZB direkt etwas untersagen?

Nein. Dafür wäre der EuGH zuständig. Karlsruhe hätte die Möglichkeit, einen Rechtsverstoß festzustellen und die deutschen Akteure (Bundestag, Bundesregierung, Bundesbank) zu verpflichten, auf einen Stopp solcher Programme auf europäischer Ebene möglichst intensiv hinzuwirken, bei den Programmen gar nicht mitzuwirken oder nur unter bestimmten Auflagen. Schon die Feststellung eines Rechtsverstoßes wäre allerdings ein deutliches Signal aus einem der größten Geberländer der EU. Das Gericht hat allerdings immer betont, dass es seine Aufgabe darin sieht, die Einhaltung des Rechts zu kontrollieren, aber keine europapolitischen Grundsatzentscheidungen selbst zu treffen.

Die EZB hatte doch im Januar angekündigt, in großem Stil Staatsanleihen zu kaufen. Was ist der Unterschied zum OMT-Programm?

Das EZB-Programm "Quantitive Easing" vom 22. Januar 2015 hat das Ziel, bis Ende September 2016 Staatsanleihen aller Euro-Staaten im Wert von bis zu einer Billion anzukaufen. Es ist wichtig, dieses Programm vom OMT-Beschluss zu trennen, um den es im aktuellen Klageverfahren geht. Ein wesentlicher Unterschied liegt in einem unterschiedlichen Ziel, das die EZB definiert. Bei "Quantitive Easing" soll es laut EZB darum gehen, eine "Deflation" zu vermeiden. Darum fällt es zumindest leichter, das Programm als erlaubte Geldpolitik zu qualifizieren. Anderslautende Vorwürfe und Kritik gibt es trotzdem zuhauf. Auch Klagen sind bereits angekündigt. Völlig unabhängig voneinander sind beide Blöcke aber auch nicht. Denn es spricht viel dafür, dass die EZB bei "Quantitive Easing" schon einige der Kritikpunkte aus dem langen Rechtsstreit rund um OMT berücksichtigt hat, um auf Nummer sicher zu gehen. Und die grundsätzlichen Fragen nach dem Umfang richterlicher Kontrolle stellen sich in allen Konstellationen.