Störfall-Szenarien Jod schlucken und Radio hören

Stand: 25.08.2007 16:43 Uhr

Allein im Jahr 2005 kam es in kerntechnischen Einrichtungen in Deutschland zu 137 „meldepflichtigen Ereignissen“. Laut internationaler Definition war kein schwerwiegender Störfall darunter. Doch ab wann spricht man von einem Störfall und was passiert, wenn sich ein größerer atomarer Unfall in Deutschland ereignet?

Von Kristopher Sell, tagesschau.de

Der Begriff des Störfalls ist nicht eindeutig definiert. In Zusammenhang mit Atomkraftwerken wird er als Sammelbegriff für alle Vorkommnisse verwendet, die den normalen Betrieb stören. In Deutschland werden meldepflichtige Ereignisse in kerntechnischen Einrichtungen seit 1975 an die atomrechtlichen Aufsichtsbehörden gemeldet. Entsprechende Quartalsberichte veröffentlicht das Bundesamt für Strahlenschutz. Sie sollen garantieren, dass Störfälle nicht verschwiegen oder verharmlost werden.

Meldepflicht für Kraftwerksbetreiber

Weltweit gilt die „International Nuclear Event Scale“ (INES) der internationalen Atomenergiebehörde (IAEO). Die Bewertungsskala hat sieben Stufen, die von Störung bis katastrophalem Unfall reichen. Der Super-GAU in Tschernobyl wurde nachträglich als Ereignis der höchsten Stufe 7 angegeben. In Deutschland haben sich seit Einführung der INES-Skala 1991 nach Angaben des Bundesamt für Strahlenschutzes bislang nur drei Ereignisse der Stufe 2 abgespielt. Per Definition kommt es bei einem solchen Störfall zu „begrenzten Ausfällen der gestaffelten Sicherheitsvorkehrungen“, „unzulässig hoher Strahlenexposition beim Personal“, sowie „erheblicher Kontamination“. Zu Störfällen der Stufe 2 kam es in den Kernkraftwerken Philippsburg (August 2001), sowie Unterweser (Juni 1998).

Gratispackungen mit Jodtabletten

Sollte es in einem der deutschen Kernkraftwerke infolge eines Unfalls oder eines Terroranschlags zur Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität kommen, greifen die Katastrophenschutzmaß-nahmen der Bundesländer. Gemeinsam mit Kraftwerksbetreibern haben die Länder entsprechende Szenarien entwickelt. Seit 1999 existiert darüber hinaus die „Rahmenempfehlung für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen“. Danach wird je nach Umfang der Kontamination zwischen den Katastrophenschutzmaßnahmen „Verbleiben im Haus“, „Einnahme von Jodtabletten“ und „Evakuierung“ entschieden.

Nach einem Szenario des schleswig-holsteinischem Innenministeriums, das für den Katastrophenschutz rund um die Kernkraftwerke Brokdorf, Brunsbüttel und Krümmel zuständig ist, würden neben den „anlageninternen Notfallmaßnahmen“ Krisenstäbe der betroffenen Verwaltungsbezirke, der Länder und des Bundes ihre Arbeit aufnehmen. Je nach Strahlenbelastung und Witterung würden über sofortige Evakuierungen und die Einrichtung provisorischer Notfallstationen zur Dekontamination, sowie „strahlenmedizinischer Behandlung und sozialer Betreuung einschließlich Unterbringung, Kleiderwechsel und Verpflegung“ entschieden. Anwohner schleswig-holsteinischer Kernkraftwerke erhielten im vergangenen Jahr bereits Gratispackungen mit Jodtabletten.

"Was soll man dann noch machen"

Sollte es im Atomkraftwerk Biblis zu einem schweren Störfall kommen, empfiehlt der Kraftwerksbetreiber RWE in seiner Broschüre „Notfallschutz in Biblis“ folgende Maßnahmen: Radio einschalten, Fenster und Türen schließen und bei Evakuierungen „nicht mitzunehmende Tiere mit Futtervorrat versorgen!“. Hinter vorgehaltener Hand scheinen jedoch die Behörden die Grenzen entsprechender Szenarien zu kennen. Auf konkrete Evakuierungsmaßnahmen nach einen möglichen Super-GAU in einem Kernkraftwerk bei Hamburg angesprochen, antwortete ein Mitarbeiter der dortigen Innenbehörde: „Was soll man dann noch machen.“