Der britische Premier Boris Johnson spricht auf einer Pressekonferenz in London.
Analyse

Johnsons Brexit-Kurs Fahrplan ins Chaos

Stand: 02.06.2020 02:16 Uhr

Kein europäisches Land ist vom Coronavirus so betroffen wie Großbritannien. Auch die Wirtschaft wird massiv leiden. Zeit für Risikovermeidung in Sachen Brexit? Nicht mit Premier Johnson.

Seit Corona spricht auf der Insel niemand mehr vom Brexit. Als ob die Briten selbst des Themas müde geworden seien. Das aber dürfte sich jetzt ändern. Denn Ende Juni droht die letzte Deadline vor dem EU-Austritt. Hat Premierminister Boris Johnson bis dahin keine Verlängerung der Übergangsphase beantragt, sind die Briten am 31. Dezember dieses Jahres unwiderruflich draußen, mit oder ohne Abkommen. Und so wie es aussieht, ist ein "No Deal", also ein chaotischer Brexit ohne Abkommen, derzeit der wahrscheinlichere Ausgang. Trotz Corona und, so absurd das auf den ersten Blick klingt, möglicherweise genau deshalb.

Denn die Verhandlungen, die seit Ausbruch des Virus nur noch virtuell geführt wurden, sind vollkommen festgefahren. Und die Stimmung ist so gereizt wie noch nie. EU-Unterhändler Michel Barnier, sonst eher bekannt für seinen chronisch unterkühlten Ton, drohte London am Wochenende in der "Sunday Times" das erste Mal seinerseits offen mit einem "No Deal". Die Briten hätten deutlich mehr zu verlieren als Brüssel, erklärte er.

Schwerste Rezession seit Jahrhunderten?

Und hier hat er die Fakten auf seiner Seite. Die Briten exportieren knapp die Hälfte ihrer Waren in die EU, während andersherum nur knapp zehn Prozent der EU-Exporte nach Großbritannien gehen. Hinzu kommt, dass die Briten durch Corona vor einer epochalen Wirtschaftskrise stehen. Die Bank of England rechnet mit der tiefsten Rezession seit mehr als 300 Jahren. Die Notenbank geht für 2020 von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von 14 Prozent aus. Zum Vergleich: Die Bundesregierung erwartet für Deutschland ein Minus von 6,3 Prozent.

Es wäre also nur vernünftig, wenn Johnson in der gegenwärtigen Corona-Krise eine Verlängerung der Übergangsphase beantragen würde. Die EU hat das mehrfach angeboten. Aber Vernunft ist Johnsons Sache nicht. Stattdessen schloss er eine Verlängerung noch vor wenigen Wochen emphatisch aus, und wenig deutet daraufhin, dass er sich aus der eigenen Rhetorik jetzt noch befreien könnte. Ist doch der schnelle Vollzug des Brexit das Mantra, mit dem er die Wahl gewonnen hat, und das einzige Thema, was seine Regierung derzeit noch wirklich zusammenschweißt.

Menschen in einem Londoner Park

Zumindest in England wurden mehrere Corona-Beschränkungen gelockert: Grundschüler dürfen wieder in die Schule gehen, Geschäfte dürfen ab dem 15.6 wieder öffnen. Außerdem können sich bis zu sechs Personen in Grünanlagen wie dem Londoner Victoria Park treffen.

Johnson wegen Corona stark unter Druck

Und das ist wichtiger denn je, denn Johnson steht mit dem Rücken zur Wand. Seine Corona-Politik ist ein Desaster, Großbritannien hat die höchsten Todeszahlen in Europa. Nach fast drei Monaten gibt es noch immer kein funktionierendes "Testing and Tracing". Den Lockdown lockerte er jetzt dennoch, woraufhin sich selbst Wissenschaftler aus dem regierungseigenen Krisenstab von seinem Schlingerkurs distanzierten. Zu unvorbereitet, zu früh, warnten sie.

Seit außerdem bekannt wurde, dass Johnsons engster Berater Dominic Cummings den Lockdown bereits Ende März mit einer privaten Reise durch halb England gebrochen hat, tobt auch noch eine Rebellion in den eigenen Reihen. Eine große Gruppe aufständischer Tories fordert Cummings' Rücktritt. Johnson aber hält bislang an dem umstrittenen Chefberater fest, der die Lage noch zuspitzte, indem er jede Entschuldigung für sein Fehlverhalten ablehnte.

Der Verstoß gegen jedes Fair Play aber ging auch vielen Briten zu weit, selbst die rechte Boulevardpresse spielte plötzlich nicht mehr mit - und so hat Johnson diesmal jede Menge politisches Kapital auch im eigenen Lager verspielt, das er nun wieder hinter sich versammeln muss.

Wie wird ein Brexit in Corona-Zeiten funktionieren?

Der Vollzug des Brexit wird dadurch umso dringlicher, egal in welcher Form. Je härter umso besser, jubeln derzeit schon manche der fanatischeren Brexiteers. Denn im Corona-Chaos, so ihre zynische Spekulation, dürfte der zusätzliche wirtschaftliche Schaden durch einen "No Deal"-Brexit ganz unbemerkt untergehen.

Tatsächlich aber warnen so gut wie alle britischen Wirtschaftsexperten derzeit eindringlich vor den fatalen Domino-Effekten, die ein "No Deal"-Brexit in Kombination mit der Corona-Rezession provozieren würde. Ist die Juni-Deadline aber erst einmal verstrichen, bleibt kaum Zeit für ein Abkommen. Der "No Deal" wird dann immer wahrscheinlicher - ein Ausgang der Brexit-Saga, den sich keine britische Regierung bewusst zum Ziel setzen kann. Auch Johnson nicht.

Alles ohne Sicherheitsgurt

Aber der fährt nun einmal am liebsten ohne Sicherheitsgurt ins Ungewisse, und wenn es eng wird, auch gern zusätzlich mit Vollgas. In der vagen Hoffnung, dass die Fahrt für ihn schon irgendwie gut ausgehen wird. Womit die Chancen, dass er in seiner momentanen Not die Juni-Deadline heroisch verstreichen lässt und so den letzten rettenden Abzweig vor dem drohenden Abgrund tollkühn überfährt, denkbar groß geworden sind.

Bislang ist er selbst mit dieser Strategie noch immer irgendwie durchgekommen. Für die britische Wirtschaft aber wäre der "No Deal" ein Totalschaden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 01. Juni 2020 um 23:15 Uhr.